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Elisabeth Kolomak
11.1.1866 Bremen - 22.10.1943 Bremen

Im Jahre 1926 erschien im Herder Verlag eine Lebensgeschichte mit dem Titel "Vom Leben getötet", Hrsg. von Mater Ignatia. In dem außerordentlich mitreißend geschriebenen Roman wurde geschildert, wie ein junges Mädchen aus wenig bemittelten Schichten zu Anfang der 20er Jahre Opfer von Verführung, Sittenpolizei und Schulmedizin geworden war. Sie war die Tochter Elisabeth Kolomaks, Ehefrau eines Schusters, dessen Einkommen zum Leben der fünfköpfigen Familie nicht reichte. Deshalb übernahm sie Arbeiten als Plätterin und Wäscherin.
"Das Mädchen - im Roman Grete Machan - war als 15 jährige im Frühjahr mit einer Freundin nach dem Mekka der 20er Jahre, Berlin ausgerissen."1 Sie wurden gesucht und in Bremen von der Polizei vorgeladen. Um den Ruf ihrer Tochter, der durch den Klatsch geschädigt wurde, wiederherzustellen, musste Lisbeth zu Hause bleiben und den achtköpfigen Haushalt versorgen. In dieser Zeit wurde einer obdachlosen Freundin "mehrmals gestattet, bei der Schusterfamilie zu nächtigen. Das hieß angesichts der damals ‚normal' beengten Verhältnisse...dass die Freundinnen das Bett teilen mussten....Eines Tages holte die Polizei die Freundin vom Hause Kolomak ab, da sie in Verdacht stand, geschlechtskrank zu sein. Auf dem Wege zur Wache denunzierte sie die Altersgenossin, sie sei ebenso geschlechtskrank wie sie selbst."2

Lisbeth, der Prostitution beschuldigt, wurde zwangsweise und äußerst flüchtig untersucht und in polizeilichem Gewahrsam einer Zwangsbehandlung einer Syphiliskur mit Silbersalvan ausgesetzt, ohne dass ihre Eltern davon informiert worden waren. Die Mutter versuchte vergeblich die Tochter freizubekommen. Lisbeth wurde dem Jugendrichter vorgeführt, dieser plädierte dafür, sie zu entlassen jedoch die Jugendfürsorgerin setzte sich für eine Heimunterbringung ein. Das junge Mädchen wurde schwer krank. Schließlich gelang es der Mutter, sie aus der Isolierstation - wohin man sie gebracht hatte - nach Hause zu nehmen, dort jedoch starb sie schon nach kurzer Zeit.
Da ihre Geschwister in der Schule wegen unterstellter Prostitution der Schwester gehänselt wurden, "entschloss sich die Mutter, die von ihr in Tagebuchform gefasste Geschichte dem Lehrer zu geben, um die Kinder vor weiteren Behelligungen zu bewahren." Dieser jedoch gab die Schrift an den Jugendrichter. Der Vorsitzende des katholischen Fürsorgevereins gab eine Kopie, die der Richter angefertigt hatte, der Klostervorsteherin des Klosters Haselünne im Emsland. Nach Rücksprache mit Elisabeth Kolomak veröffentlichte diese das Buch zwei Jahre nach dem Tod der Tochter anonym. Sie begründete die Motive der Herausgabe des Buches folgendermaßen: "Nicht allein das traurige Schicksal meiner Tochter, der Klatsch, die Verleumdung und die Vorurteile gegen uns und die anderen Kinder gaben mir die Kraft, Erzähltes und Geschriebenes wiederzugeben. Ich versetzte mich in die Natur des Kindes, das ich als Mutter am besten kannte...Ich habe nur die Ehre meiner Tochter und der lebenden Kinder wahren wollen. Und als das Buch zum Wohl der heranreifenden Jugend dienen sollte, gab ich meine Einwilligung zur Herausgabe."4
Schon bald nach Veröffentlichung jedoch wurde bekannt, wer die wahre Verfasserin war. Elisabeth Kolomak floh in das Kloster der Ursulinen, wurde aber dort rechtswidrig, weil auf nichtbremischen Territorium, wie Auguste Kirchhoff deutlich machte,5 verhaftet und der Kuppelei angeklagt.
"Im Juni 1927 kam es dann unter Ausschluss der Öffentlichkeit, d.h. unter Ausschluß der Bremer Familienfürsorgerinnen und der Mitglieder der Frauenbewegung, deren Dabeisein man offensichtlich fürchtete, zum Prozeß"6Die Hauptverhandlung im Schwurgerichtssaal des Landgerichts dauerte drei Tage, über 40 Zeugen wurden geladen und auch ein Lokaltermin im Haus der Familie Kolomak in der kleinen Meinkenstraße Nr. 3 wurde durchgeführt. "Trotz problematischer Beweisführung...wurde die Mutter von vier Schulkindern vor allem aufgrund der Aussagen von ‚Lotte', der Freundin ihrer Tochter wegen Kuppelei zu acht Monaten Gefängnis verurteilt.
Der Prozess erregte national und international großes Aufsehen. Carl von Ossietzky7 schrieb über ihn: "Sie [die Richter] sind ebenso gegen kurzes Haar und kurze Kleider wie gegen die Weimarer Verfassung. Sie sind gegen die neue Selbständigkeit der jungen Mädchen … Sie schützen einen Zustand, den es nicht mehr gibt. Sie schützen eine patriarchalische Moral, die der Krieg niedergelegt hat, und über deren Trümmer heute seidenbestrumpfte Beinchen lustig tanzen und gelegentlich stolpern und versinken. Die nächste Generation wird schon viel sicherer tanzen."
Erst als ‚Gras über die Angelegenheit gewachsen war' - so Dr. Hertel der Anwalt der Betroffenen sarkastisch-, ließ man Elisabeth Kolomak wieder frei."8
"Die Moral der Geschichte fasste der Berliner Journalist Heinz Pol zusammen: 'Jemand reißt den Vorhang über Geschehnisse fort, die - Hand aufs Herz! - jeden Tag zu Dutzenden in jeder Stadt sich ereignen. Nur daß man's nicht erfährt, daß niemand seine Stimme erhebt und anklagt. Dies eine Mal in Bremen opponierte eine Mutter: Der Vorhang fällt und eine ganze Stadt, ein ganzes Moralsystem gerät aus dem Häuschen. Untersuchungen, Vernehmungen, Erklärungen, Dementis, Protokolle, Debatten, Anträge, Verhaftungen. Soviel Lärm um ein kleines syphiliskrankes Mädchen? Da muß wohl noch viel mehr faul sein, als selbst die tapfere Frau Kolomak, Waschfrau in Bremen, in ihren kühnsten Dichterphantasien geahnt hat."9

Quellen und Literatur :
1. Meyer-Renschhausen, Elisabeth: Weibliche Kultur und soziale Arbeit, Köln/Wien 1989, S, 345ff.
2. ebda. S. 346
3. Vom Leben getötet - Schicksal eines Kindes, zweite Auflage, Freiburg 1927, S. 8
4. ebda.
5.Kirchhoff, Auguste, die bremischen Frauen und das Buch "Vom Leben getötet" in: die Frau im Staat 9 (1927) S. 6 - 7
6. Meyer-Renschhausen, Elisabeth, zur Rechtsgeschichte der Prostitution. Die gesellschaftliche "Doppelmoral" vor Gericht, in: Gerhard, Ute Hrsg: Frauen in der Geschichte des Rechts, München 1997, S. 772 - 789, S. 776/777
7. zit in: "Aus den Akten auf die Bühne" Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte? ,Der Fall Kolomak. Ein Bremer Sittlichkeitsskandal der 1920er Jahre, Zugriff: 27.4.2015 http://www.sprechende-akten.uni-bremen.de/wordpress/?page_id=247
8.Meyer-Renschhausen, a.a.O. S. 346
9.zit in: "Aus den Akten auf die Bühne"

Dauks, Sigrid/Schöck-Quinteros, Eva Hrsg.: "Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?- Der Fall Kolomak, Bremen 2010 Ariadne Heft 62 - Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte befasst sich ausführlich mit dem Prozess
König, Johann Günther, Die Feine Bremer Art, S. 143-158
Schöck-Quinteros,Eva: Der Fall Kolomak. Ein Bremer Skandal im Jahr 1927, S. 66-68
Dokumentation: Heinz Pol: Der Bremer Skandal, S. 69-70
Dokumentation: Gabriele Tergit: Jahrgang 1907. Der Prozeß Kolomak, S.71
Dokumentation: Carl von Ossietzky: Maß für Maß in Bremen, S.72
Akten "Zusammenstellung der bezüglich Elisabeth Kolomak bei der Polizei erwachsenen Vorgänge und Ermittlungen, StaB 4,21 -24, Akten des Bestands Gesundheitsrat

AutorinEdith Laudowicz